In memoriam Papst Franziskus: Der Seelsorger
Stefan von Kempis – Vatikanstadt
Eine gewisse Schizophrenie war damit willentlich in diesem Pontifiat angelegt. Franziskus stand offiziell hinter den Maßregelungen aus dem Glaubensdikasterium – und riet angeblich in einem vertraulichen Gespräch Ordensleuten, sich nicht allzu sehr um solche Anweisungen zu kümmern. Er ging an die Ränder – nicht nur, wie er programmatisch angekündigt hatte, an die „geografische und existenzielle Peripherie“ der Menschen, sondern auch an den Rand dessen, was das Lehramt ihm zu tun und zu sagen erlaubte.
April 2018. Der Papst besuchte eine römische Stadtrand-Pfarrei. Kinder durften ihm Fragen stellen. Doch dem achtjährigen Emanuele versagte die Stimme, er begann zu weinen. Schließlich sagte er dem Papst seine Frage ins Ohr: Ob denn sein vor kurzem verstorbener Vater jetzt im Himmel sei? Der Vater war Atheist gewesen, aber ein guter Mensch –und er habe alle seine vier Kinder taufen lassen.
Die Frage des Achtjährigen
Einfühlsam ging der Papst auf die Frage des Jungen ein. „Es ist Gott, der entscheidet, ob jemand in den Himmel kommt, aber wie ist das Herz Gottes angesichts eines solchen Papas? Gott hat selbst das Herz eines Papas. Glaubt ihr, Gott wäre imstande, ihn draußen zu lassen? Lässt Gott denn seine Kinder im Stich, auch wenn sie gut sind? Nein? Emanuele, das ist die Antwort. Gott war bestimmt stolz auf deinen Papa, denn es ist einfacher, seine Kinder taufen zu lassen, wenn man gläubig ist, als wenn man es nicht ist. Und bestimmt hat das Gott sehr gefallen… Sprich mit deinem Papa, bete zu deinem Papa! Danke für deinen Mut, Emanuele!“
Es war ein zutiefst berührender Moment. In diesem Augenblick gab es nichts Wichtigeres auf der Welt als die quälende Frage des kleinen Jungen. Hier war er in seinem Element: Franziskus, der Seelsorger.
„Geparkte Christen“
Nukleus seiner pastoralen Neuausrichtung des Papstamtes war über Jahre hinweg die Kapelle der Vatikanresidenz Santa Marta. Hier feierte der Pfarrer des globalen Dorfs bis zum Mai 2020 jeden Morgen um sieben die heilige Messe. Und predigte dabei spontan, mit einfachen Worten, oft auch witzig. Eine deutliche Abkehr vom großwesirhaften Auftreten des römischen Bischofs, vom Cäsaropapismus.
„Es gibt so viele Christen im Stillstand, die nicht weitergehen; Christen, die im Sand der Alltagsdinge steckengeblieben sind – auch gute Leute, aber sie wachsen nicht, sie bleiben klein. Geparkte Christen! Sie haben sich eingeparkt. Christen im Käfig, die nicht fliegen können mit dem Traum, zu dem Gott uns ruft… Wo ist deine Sehnsucht nach Gott? Denn der Glaube, das ist: Sehnsucht haben, Gott zu finden, ihm zu begegnen, mit ihm zu sein, mit ihm glücklich zu sein.“ (12.3.18)
Für eine Kultur der Begegnung
Franziskus sprach die Menschen auf Augenhöhe an, nicht von oben herab. Er nutzte vor allem positiv besetzte Begriffe wie „vorwärtsgehen“, vermied Fachtermini. „Wer aufmerksam ist, der sollte nicht nur auf den Inhalt hören, sondern auf die Dynamik der Beziehung achten, die dadurch entsteht“, riet der Jesuit Antonio Spadaro, ein Vertrauter des Papstes. Beziehung: Darum ging es. Von einer „Kultur der Begegnung“ redete der argentinische Pontifex gern, Glaube und Wahrheit waren für ihn nichts Kodifiziertes, nichts ein für allemal Festgelegtes, sondern sie waren „Begegnung“. „Die Zuhörer sind nicht weniger wichtig als der Sprecher“ – dieses Diktum des argentinischen Großschriftstellers Jorge Luis Borges galt auch für den Sprechstil des Papstes.
Alles kam weniger pontifikal daher, mehr im Plauderton. Wo andere Päpste lehramtliche Texte verfassten, gab Franziskus Interviews. Nicht immer gelang die neue Art der Kommunikation, zuweilen wirkte er redundant. In gelungenen Momenten hingegen blitzte starkes pastorales Charisma auf.
„Ich bin bei euch mit schweigendem Herzen“
Januar 2015: Vierzehn Monate nach einem verheerenden Taifun feierte Franziskus eine Messe in der philippinischen Stadt Tacloban. 7.000 Todesopfer hatte der Taifun im ganzen Land gefordert; Tacloban war zu großen Teilen verwüstet. Während der Messe stürmte und regnete es heftig; Franziskus zelebrierte mit einem gelben Plastik-Regencape – und predigte mit tiefer Empathie.
„Viele von euch haben alles verloren. Ich weiß nicht, was ich euch sagen soll. Er aber – Christus – weiß, was er euch zu sagen hat! Viele von euch haben einen Teil ihrer Familie verloren. Mir bleibt nur das Schweigen. Ich bin bei euch mit schweigendem Herzen… Viele von euch haben sich im Blick auf Christus gefragt: Warum, Herr? Und jedem gibt der Herr aus seinem Herzen eine Antwort ins Herz. Ich habe keine anderen Worte, die ich euch sagen könnte. Schauen wir auf Christus: Er ist der Herr, und er versteht uns, denn er hat all die Prüfungen durchgemacht, die über uns hereinbrechen.”
Die Interkommunion von Lesbos
Weil der Tropensturm immer heftiger wurde, musste der Seelsorger Franziskus vorzeitig nach Manila zurückfliegen. Doch er hatte seinem selbstgesetzten Anspruch genügt: an die Peripherie gehen, bei den Allerletzten sein, ihnen die Botschaft von Gottes Barmherzigkeit bringen. Für diesen Papst schnurrte das ganze Evangelium auf die Weltgerichts-Szene in Matthäus 25 zusammen, in der der wiederkehrende Christus zu den Gerechten sagt: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“. „Was sollen wir tun, Padre? – Schau, lies die Seligpreisungen, die werden dir guttun. Wenn du dann wissen willst, was du konkret tun sollst, lies Matthäus, Kapitel 25. Das ist das Muster, nach dem wir gerichtet werden. Mit diesen beiden Dingen habt ihr den Aktionsplan: die Seligpreisungen und Matthäus 25. Ihr braucht nichts anderes mehr zu lesen.“
Hier rühren wir an den Kern der Spiritualität dieses Papstes: In den Armen und Bedürftigen begegnen wir Christus. Für Franziskus war es eine Gottesbegegnung, war es Eucharistie, wenn er einen Bettler umarmte. Als er 2016 Migranten und Flüchtlinge in ihrem Auffanglager auf der griechischen Insel Lesbos besuchte, ließ er sich von orthodoxen Bischöfen begleiten – für ihn war das Interkommunion, gemeinsame Teilhabe am geschundenen Leib Christi. Nicht im eucharistischen Brot, sondern in den Geringsten unter unseren Mitmenschen. Aber deswegen nicht weniger real.
Juba statt Paris
4. Oktober 2013: Franziskus meditierte bei seinem ersten Besuch in Assisi, während einer Begegnung mit behinderten und kranken Kindern. „Hier verbirgt sich Jesus in diesen Jugendlichen, in diesen Kindern, diesen Menschen. Auf dem Altar beten wir das Fleisch Jesu an; in ihnen erkennen wir die Wunden Jesu. Jesus, der in der Eucharistie verborgen ist, und Jesus, der sich in diesen Wunden verbirgt. Wir müssen auf sie hören! … Jesus ist gegenwärtig in der Eucharistie, hier ist das Fleisch Jesu; Jesus ist gegenwärtig in eurer Mitte, und das ist das Fleisch Jesu, die Wunden Jesu sind in diesen Menschen.“
Weil es den pastoralen Papst an die Peripherien zog, bleiben Berlin, London oder Madrid in diesem Pontifikat unbesucht. Stattdessen tauchte Franziskus an Orten wie Tirana oder Bangui auf, Malmö, Tiflis, Yangon, Dili oder Juba. Auch mit seiner Auswahl neuer Kardinäle machte der Papst vom Ende der Welt klar, dass jetzt die Stunde der Seelsorge geschlagen hatte: Rote Hüte wanderten nach Singapur, Haiti oder Tonga; viele übliche Verdächtige aus Europa (Venedig, Paris) gingen hingegen leer aus. Es waren meist gestandene Ortsbischöfe wie er selbst, die in den „Senat des Papstes“ einziehen durften.
Missbrauch – der Albtraum, der nicht enden will
Die pastorale Wende der Weltkirche unter Franziskus war nicht ohne Schattenzonen. Das erwies sich vor allem am Umgang mit den Missbrauchsskandalen, dem Albtraum, der nicht enden will. So mancher Seelsorger, den der Papst kannte und schätzte und förderte, hat in dieser Hinsicht Dreck am Stecken. Ausgerechnet auf diesem sensiblen Gebiet ließ den Papst zuweilen sein Gespür im Stich: Er hielt lange, wohl zu lange an Bischöfen fest, die Missbrauch vertuscht oder sogar selbst begangen haben. Und er erweckte nicht immer den Eindruck, den Ernst des Phänomens Missbrauch zu begreifen. Mehrere deutsche Bischöfe, die wegen Fehlern im Umgang mit Missbrauchsfällen ihren Rücktritt anboten, beließ Franziskus im Amt.
Zwar hat er im Umgang mit Missbrauch das Kirchenrecht deutlich verschärft und eine vatikanische Kinderschutzkommission ins Leben gerufen. Doch als er im Februar 2019 im Vatikan einen Kirchengipfel über den Schutz von Minderjährigen veranstaltete, verbreitete er sich in seiner Schlussansprache zunächst lang und breit über die Tatsache, dass Missbrauch „in allen Kulturen und Gesellschaften verbreitet“, mithin kein originär kirchliches Problem sei. Erst nach einem nicht unbedingt geglückten Vergleich von Missbrauch mit Menschenopfern kam er auf die Kirche zu sprechen.
Anti-Missbrauchs-Gipfel im Vatikan
„Die Unmenschlichkeit dieses Phänomens auf weltweiter Ebene wird in der Kirche noch schwerwiegender und skandalöser, weil es im Gegensatz zu ihrer moralischen Autorität und ihrer ethischen Glaubwürdigkeit steht. Die gottgeweihte Person, die von Gott auserwählt wurde, um die Seelen zum Heil zu führen, lässt sich von ihrer menschlichen Schwäche oder ihrer Krankheit versklaven und wird so zu einem Werkzeug Satans. In den Missbräuchen sehen wir die Hand des Bösen, das nicht einmal die Unschuld der Kinder verschont. Es gibt keine ausreichenden Erklärungen für diese Missbräuche gegenüber Kindern. Demütig und beherzt müssen wir anerkennen, dass wir vor dem Geheimnis des Bösen stehen, das gegen die Schwächsten erbost ist, weil sie Bild Jesu sind.“
Das war eigentlich ein sehr ernster theologischer Gedanke: Missbrauch, der das Herzstück der kirchlichen Mission, der das Wesen der Kirche selbst verdunkelt. Doch vielen Beobachtern schienen die Papstworte zu kurz gesprungen. Es fehlte – so argumentierten sie – die Sensibilität gegenüber den Opfern, der Gedanke, dass die Überlebenden von Missbrauch an erster Stelle stehen müssen. Die Schuld der Täter werde gleichsam relativiert, indem das Übel dem „Bösen“ zugerechnet werde. Vielen Kommentatoren war nicht bewusst, wie sehr der Kampf gegen das Böse, nein: gegen den Bösen zutiefst zum jesuitischen Denken und Fühlen dieses Papstes gehörte. Es half nicht, dass der Papst und die Kirchenführer nicht in einem Buß-Ambiente auftraten, sondern in einem prachtvollen Freskensaal des Apostolischen Palastes.
Offene Kapellentür während des Covid-Lockdowns
Franziskus wollte tiefer bohren. Ihm ging es nicht nur um die nötigen Maßnahmen gegen Missbrauch, sondern um geistlichen Kampf: „In diesen schmerzlichen Fällen sehe ich die Hand des Bösen, die nicht einmal die Unschuld der Kleinen verschont… Dahinter steckt der Teufel.“ Demütigung, Selbstanklage, Gebet und Buße, so lautete sein Rezept gegen Missbrauch in der Kirche. Zwar räumte er ein, dass Missbrauchsfälle „immer die Folge von Machtmissbrauch“ sind – doch dem Versuch des deutschen Reformprojekts „Synodaler Weg“, eine Debatte über Macht in der Kirche loszutreten, konnte er nicht viel abgewinnen. Missbrauch: Das blieb all diese Jahre hindurch eine drängende Anfrage an dieses Pontifikat. Immerhin bescheinigte ihm der deutsche Missbrauchs-Experte und Jesuit Hans Zollner in diesem Bereich eine „steile Lernkurve“.
Franziskus, der Seelsorger: Sein großer Moment kam in der Corona-Pandemie. Während in vielen Ländern aus Seuchenschutzgründen Kirchentüren zufielen, öffnete Franziskus seine Kapellentür, zumindest virtuell; während des Lockdowns konnten die zuhause Eingesperrten sich zu seiner täglichen Frühmesse in Santa Marta zuschalten. Am 27. März 2020 betete der Papst ganz allein auf dem Petersplatz, nur von ein paar Assistenten unterstützt, um ein Ende der Pandemie. Er predigte über einen dramatischen Text aus dem Markusevangelium: Sturm auf dem Meer, die Jünger verzweifelt, das Boot kurz vor dem Untergang, und Jesus, der schläft.
Einsamer Segen auf dem nächtlichen Petersplatz
„Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben? Herr, dein Wort heute Abend trifft und betrifft uns alle. In unserer Welt, die du noch mehr liebst als wir, sind wir mit voller Geschwindigkeit weitergerast und hatten dabei das Gefühl, stark zu sein und alles zu vermögen. In unserer Gewinnsucht haben wir uns ganz von den materiellen Dingen in Anspruch nehmen und von der Eile betäuben lassen. Wir haben vor deinen Mahnrufen nicht angehalten, wir haben uns von Kriegen und weltweiter Ungerechtigkeit nicht aufrütteln lassen, wir haben nicht auf den Schrei der Armen und unseres schwer kranken Planeten gehört. Wir haben unerschrocken weitergemacht in der Meinung, dass wir in einer kranken Welt immer gesund bleiben würden. Jetzt, auf dem stürmischen Meer, bitten wir dich: Wach auf, Herr!“
Es waren die vielleicht eindringlichsten Momente dieses Pontifikats: Der Papst, der in strömendem Regen allein die Stufen zum Petersdom hochgeht. Und der dann über der leeren Piazza mit dem Allerheiligsten ein Kreuz in den Nachthimmel zeichnet, während irgendwo in der Nähe die Sirene eines Krankenwagens heult.
(vatican news)
Danke, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Wenn Sie auf dem Laufenden bleiben wollen, können Sie hier unseren Newsletter bestellen.