Irak: Als Psychotherapeut im Jesiden-Camp
Michael C. Hermann - Stuttgart
Auch zehn Jahre nach dem Völkermord des IS brauchen Jesidinnen und Jesiden dringend Unterstützung. Viele Jesidinnen wurden vergewaltigt und verschleppt; Männer wurden gezwungen, zum Islam zu konvertieren, oder von der Terrorgruppe zwangsrekrutiert. Das Schicksal von über 2.000 Meschen ist bis heute ungeklärt. Der in Deutschland lebende Psychotherapeut und Jeside Sefik Tagay: „Die humanitäre Klage in den Flüchtlingslagern ist nach wie vor katastrophal, die Infrastruktur ist zerstört ohne jede Perspektive. Und es sind immer noch hunderte jesidische Frauen und Mädchen in den Händen des IS.“
Deutsche Partner versuchen, in den Camps vor Ort ein psychotherapeutisches System aufzubauen. Michael Blume ist Antisemitismusbeauftragter in Baden-Württemberg. Zuvor war er für die Hilfen für die Jesiden zuständig und hat über 1.000 Jesidinnen zu einer Traumatherapie in Deutschland verholfen. „Man kann mit verhältnismäßig geringen Mitteln viel erreichen. Und deswegen unterstützen wir ein Traumazentrum in Dohuk, wo auch Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten als sogenannte Ersthelfer ausgebildet werden. Hier haben wir tatsächlich den Fall: Wir können den Menschen mit überschaubaren Mitteln helfen, weil es nicht darum geht, die Kindheit aufzuarbeiten, sondern darum, aus einer Kultur der Scham herauszukommen und die eigene Würde und das eigene Recht auf Leben wieder zu entdecken.“
Professor Jan Ilhan Kizilhan arbeitet hauptberuflich als Psychotherapeut in Baden-Württemberg und engagiert sich für die Psychotherapeutenausbildung von Ort im Irak. „Wir können ja nicht alle nach Deutschland holen. Also müssen wir Fachkräfte dort vor Ort ausbilden, die in der Lage sind, sie dort professionell zu behandeln. Sie sprechen die Sprache, sie kennen die Kultur der Menschen. Sie brauchen aber das know how der Psychiatrie der Psychotherapie.“
Und deshalb haben Kizilhan und andere im Jahr 2016 ein Institut an der Universität Dohuk gegründet. Unterstützung kommt auch von der Diözese Rottenburg-Stuttgart und Caritas International. Seit 2017 werden dort Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten ausgebildet. Drei Jahre dauert das. „Sie müssen während dieser drei Jahre schon in Flüchtlingscamps 1.800 Stunden Praxis nachweisen, in der sie konkret mit den schwer traumatisierten Frauen und Kindern, aber auch Männern arbeiten. So lernen sie von Beginn an, wie man richtig behandelt. Nach diesen drei Jahren sind sie sehr begehrt im ganzen Irak, weil es diese Art der Ausbildung zum ersten Mal überhaupt gibt und wir bislang keine Psychotherapeuten hatten.“
Wenn ein Jeside einen muslimischen Patienten behandelt
Das Projekt ist auch interreligiös angelegt. „Die Themen Religion und Spiritualität sind ein fester Bestandteil in den verschiedenen Curricula. Sowohl unsere Dozierenden aus Europa als auch diejenigen dort vor Ort behandeln, wie interreligiöser Dialog entstehen kann. Es kann sein, dass ein Jeside einen muslimischen Patienten behandelt und umgekehrt. Das sind wichtige Themen, die wir in der Supervision, Intervention und Ausbildung behandeln.“
Immer wieder sehen Jesidinnen in den Camps keinen anderen Ausweg mehr, als sich das Leben zu nehmen, berichtet Professor Kizilhan. Vor ein paar Jahren waren es in einem Monat 13 junge Jesidinnen, die in den Camps Selbstmord begingen. Das sei ein großer Schock gewesen. Seit 2021 gibt es deshalb eine Art Telefonseelsorge in den Camps. „Die Plakate hängen überall. Das Telefon ist umsonst. Auch die Regierung macht da mit, weil sie sagen: Wir haben diese Strukturen nicht. Sie ist dankbar, dass wir sie unterstützen. Und so können Menschen anrufen, in der Nacht, tagsüber, wenn sie Suizidgedanken haben... Und dann haben wir eine Struktur, indem wir dorthin gehen oder sie erstmal am Telefon beruhigen oder notfalls eine Ambulanz schicken können, die sie dann ins Krankenhaus bringt.“
Die irakischen Behörden unterstützten die deutschen und internationalen Bemühungen, sagt Kizilhan. „Das Ministerium für Wissenschaft hat uns unterstützt. Aus Bagdad kommen Kolleginnen und Kollegen zu uns und sagen, wir wollen von euch etwas lernen, um es dann nach Bagdad oder Mossul zu bringen. Insofern haben wir keine großen Hindernisse erfahren. Die Bürokratie an Universitäten unterscheiden sich nicht, ob es in Deutschland oder im Irak ist. Die ist die gleiche. Aber die kann man überwinden.“
(rv)
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