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In memoriam Papst Franziskus: Der Reformer

Als Reformer war er angetreten, und tatsächlich hat Franziskus in den zehn Jahren seines Pontifikats die Gewichte innerhalb der Kirche verschoben. Aber auch der weiße Mann aus Santa Marta kochte nur mit Wasser – und die Kirche vollständig umstülpen wollte er gar nicht. Eher ging es ihm um einen spirituell-pastoralen Quantensprung.

Dezember 2014: Gerade war es noch so besinnlich, und jetzt das! Ausgerechnet beim Weihnachtsempfang las der Papst seiner Kurie die Leviten. Einen ganzen „Katalog von Krankheiten“ hatte er zusammengestellt, den er seinen (teilweise wie vom Donner gerührten) Mitarbeitern jetzt vortrug. Es gebe an der Kurie die Krankheit, sich „unentbehrlich“ zu fühlen, zürnte Franziskus, die Krankheit der „geistigen und geistlichen Versteinerung“, der „Planungswut“, der „schlechten Koordination“.

Der Kurie die Leviten gelesen

„Es gibt auch die Krankheit des ‚geistlichen Alzheimer‘: das Vergessen der eigenen ‚Heilsgeschichte‘, der persönlichen Geschichte mit dem Herrn… Es handelt sich um einen fortschreitenden Verfall der spirituellen Fähigkeiten, der früher oder später zu schweren Behinderungen des Menschen führt und ihn unfähig werden lässt, autonom zu handeln… Dann die Krankheit der Rivalität und der Eitelkeit: wenn die äußere Erscheinung, die Farbe der Talare und die Ehrenabzeichen zum vorrangigen Lebensziel werden… Und die Krankheit der existenziellen Schizophrenie. Es ist die Krankheit derer, die ein Doppelleben führen, Frucht der typischen Heuchelei des Mittelmäßigen und der fortschreitenden spirituellen Leere...“

Ein Sündenregister, das einem den Atem verschlagen konnte. War mit dem Papst der Exerzitienmeister durchgegangen, als der er im Jesuitenorden häufig gewirkt hatte? Oder war die Rede zwei Tage vor Weihnachten eine Kampfansage an die Kurie? Sollte letzteres zutreffen (und viele Medien deuteten den Text natürlich durch die Krawallbrille), dann hätte es sich Franziskus ausgerechnet mit denen verscherzt, auf die er bei seiner täglichen Arbeit, aber auch für das Durchsetzen von Reformen angewiesen war.

Franziskus spricht 2015 vor dem US-Kongress
Franziskus spricht 2015 vor dem US-Kongress   (ANSA)


Mandat zum Aufräumen

Einiges spricht dafür, dass der Papst seine Suada gut jesuitisch als „Gewissenserforschung“ gemeint hatte, nicht so sehr als Ausdruck seines Misstrauens gegenüber dem Vatikan. Doch tatsächlich haben ihn im Konklave 2013 viele Kardinäle gerade wegen seiner Distanz zu Rom gewählt. Benedikt XVI. war, so urteilte zumindest der Kirchenhistoriker Andrea Riccardi, 2013 auch deswegen zurückgetreten, weil sich der Vatikan und die Weltkirche als „unregierbar“ herausgestellt hatten; jetzt sollte jemand von draußen aufräumen am Heiligen Stuhl. Ein Mandat, auf das sich Franziskus wiederholt berief und das er ernst nahm.

Dabei war es kein Geheimnis, dass der Papst vom Ende der Welt immer wieder mal mit seinen Kurienbehörden fremdelte. Als ihn 2021 Ordensleute in der Slowakei fragten, wie es ihm gehe (schließlich war er zwei Monate zuvor am Darm operiert worden), versetzte er nur scheinbar launig: „Ich lebe noch. Obwohl mich einige gerne tot sähen. Ich weiß, dass es sogar Treffen unter Prälaten gab, die dachten, dem Papst gehe es schlechter, als öffentlich gesagt werde. Die bereiteten das Konklave vor… So ist es eben.“

„Mehr Evangelisierung, weniger Selbstbewahrung“

Dezember 2019: Wieder so eine Weihnachtsrede an die Kurie. Der Papst sprach diesmal über das neue Grundgesetz des Heiligen Stuhls (im Vatikansprech: „Apostolische Konstitution“); seit Jahren schon arbeitete er mit einem von ihm gegründeten Kardinalsrat daran, in dem Vertreter aller Kontinente saßen.

„Tatsächlich besteht das Ziel der gegenwärtigen Reform darin, dass die Gewohnheiten, die Stile, die Zeitpläne, der Sprachgebrauch und jede kirchliche Struktur ein Kanal werden, der mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient. Die Reform der Strukturen, die für eine pastorale Neuausrichtung erforderlich ist, kann nur in diesem Sinne verstanden werden: dafür zu sorgen, dass sie alle missionarischer werden. Und so kam es … zu dem vorgeschlagenen Titel ‚Praedicate Evangelium‘ für die … neue Apostolische Konstitution über die Reform der Römischen Kurie. Die missionarische Haltung also.“

  (ANSA)


Das neue Grundgesetz

Am Pfingsttag 2022 trat das Grundgesetz in Kraft, nach neun Jahren Arbeit. Tenor: Die Kurie soll stärker im Dienst des Papstes, aber gleichzeitig auch stärker im Dienst der Ortskirchen stehen. Das führte zu einer inneren Spannung des Textes: Zum einen kommt es in den Vatikanbehörden nicht mehr auf die Weihe an, so dass auch Laien, auch Frauen ein „Dikasterium“ der Kurie leiten können. Zum anderen wird die Rolle des Papstes gestärkt, von dessen Plazet im Vatikan alles noch stärker abhängt als zuvor. Für die Dezentralisierung, die Franziskus eigentlich wünschte, konnte das eine Hypothek bedeuten.

Herausragendes Merkmal der Kurienreform war der Vorrang der Evangelisierung. Die bisherige Glaubenskongregation verlor ihren Primat, wurde eines unter 16 Ministerien; stattdessen entstand ein neues Dikasterium für Evangelisierung, dessen Chefposten sich der Papst selbst vorbehielt. Mit dem Programmschreiben „Evangelii Gaudium“, zu Deutsch „Die Freude des Evangeliums“, war Franziskus 2013 angetreten; nun versuchte er, den Vatikan auf dieses Ziel einzuschwören.

„Jesus soll das Leben der Menschen erreichen“

„In der Kirche wird alles an die Bedürfnisse der Verkündigung des Evangeliums angepasst; nicht an die Meinungen von Konservativen oder Progressiven, sondern daran, dass Jesus das Leben der Menschen erreichen soll. Daher ist jede Entscheidung, jeder Brauch, jene Struktur, jede Tradition daran zu bewerten, in welchem Maße sie die Verkündigung Christi fördert.“ (Generalaudienz, 22.2.23)

In zehn Jahren Pontifikat hat der argentinische Papst vielerlei Reformen durchgeführt – vor allem im Finanzwesen des Vatikan mit einigem Erfolg. Er hat in Bistümern und Ordensgemeinschaften (etwa beim Malteserorden) einschneidende Veränderungen durchgesetzt, hat die sogenannte „alte Messe“ eingeschränkt, einen Welttag der Armen und einen Sonntag des Wortes Gottes eingeführt. Vor allem aus der Sicht deutscher Stürmer und Dränger war er allerdings zu zögerlich, was eine stärkere Rolle von Frauen in der Kirche angeht oder eine mögliche Lockerung des Pflichtzölibats. „Ehrlich gesagt, ich hätte mir ein bisschen mehr erwartet“, sagte der emeritierte austrobrasilianische Bischof Erwin Kräutler.

  (ANSA)

Geistliche Unterscheidung

Der Papst wollte nicht unter Druck handeln, wollte sich Zeit nehmen für die „geistliche Unterscheidung“, eine bewährte jesuitische Praxis der Entscheidungsfindung. Änderungen müssen allmählich heranreifen, fand Franziskus, und Reform ist kein ein-für-alle-Mal, sondern ein permanenter Prozess, zu dem vor allem die ständig erneuerte, innere Umkehr gehört. Pointiert formuliert: Die Herzen müssen sich ändern, die Regeln oder Strukturen sind hingegen nicht so wichtig. Jedenfalls kann man die Regeln, wie Franziskus das häufig vorführte, seelsorgerlich durchaus mal biegen, statt sie immer gleich umformulieren zu müssen. Die Deutschen allerdings schrauben mit Vorliebe an Strukturen und Regeln herum. Man geht wohl nicht fehl, wenn man Mentalitätsunterschiede für die wachsende Entfremdung zwischen der deutschen Kirche und dem Papst mitverantwortlich macht.

Ein Heiliges Jahr ohne Schranken

29. November 2015: In Bangui, der Hauptstadt der bitterarmen Zentralafrikanischen Republik, eröffnete Franziskus das von ihm gewollte, außerordentliche „Heilige Jahr der Barmherzigkeit“. Eine Vorpremiere, denn offiziell startete das „Giubileo“ erst ein paar Tage später in Rom. „Heute wird Bangui die geistliche Hauptstadt der Welt“, predigte er, bevor er die Heilige Pforte aufstieß. „Das Heilige Jahr der Barmherzigkeit kommt im Voraus in dieses Land. Ein Land, das seit vielen Jahren unter Krieg und Hass, unter Unverständnis und Mangel an Frieden leidet. Aber in diesem leidenden Land sind auch all die Länder mit einbegriffen, die das Kreuz des Krieges tragen. Bangui wird die geistliche Hauptstadt des Gebetes um die Barmherzigkeit des Vaters.“

Barmherzigkeit: Wollte man das Programm dieses Papstes in einem Wort zusammenfassen, dann wäre es dieses hier. Misericordia. Wichtiger als alle Reformen war es aus Franziskus‘ Sicht, dass die Kirche nicht Strenge und Kontrolle ausstrahlt, sondern Güte und Vergebung. Der emeritierte Papst Benedikt, der bei der Öffnung der Heiligen Pforte in Rom anwesend war, kommentierte luzide, sein Nachfolger aktualisiere auf geniale Art und Weise den Schrei Luthers nach dem gnädigen Gott.

  (ANSA)

Auf das Ungeschuldete setzen

Franziskus‘ erstes Jubeljahr – er eröffnete Ende 2024 auch noch ein „reguläres“ Heiliges Jahr von traditionellem Zuschnitt – bestach durch seine Maßlosigkeit: Nicht nur in Rom, sondern in fast allen Bistümern weltweit standen zwölf Monate lang die Heiligen Pforten weit offen. Das machte etwas vom Überschäumen der göttlichen Gnade spürbar – aber es sagte auch etwas aus über Franziskus, den Reformer. Denn wenn dieser Papst auf Gottes Barmherzigkeit setzte, dann setzte er auf das Ungeschuldete: Barmherzigkeit lässt sich nicht einklagen, lässt sich auch durch Strukturverbesserungen nicht herstellen. Sie ist das schlechthin nicht Planbare, folgt keinem Drehbuch. „Barmherzigkeit“, das war Franziskus‘ Antwort auf die Anfragen von Homosexuellen oder von wiederverheirateten Geschiedenen in der Kirche. Auch die, deren Lebensführung nicht völlig im Einklang mit den katholischen Normen und Ansprüchen steht, sollen von der Kirche behutsam und respektvoll auf ihrem Weg begleitet werden.

10. Oktober 2021: Mit einer Messe im Petersdom gab Franziskus den Startschuss zu seinem eigenen „Synodalen Weg“. Der hatte mit dem deutschen Modell nicht viel zu tun – zum einen, weil er global angelegt war statt partikular, doch vor allem, weil er nicht auf reformerische Reizthemen fokussierte. Die Weltsynode, auch „synodaler Prozess“ genannt, sollte vielmehr über die Art und Weise reflektieren, wie in der Kirche Entscheidungen getroffen werden: eine Synode über die Synodalität. Kafka hätte sich gefreut.

Synodale Träume

„Es geht nicht darum, Veranstaltungen zu organisieren oder theoretische Überlegungen zu den Problemen anzustellen, sondern vor allem darum, uns Zeit zu nehmen, um dem Herrn zu begegnen und die Begegnung unter uns zu fördern… Die Begegnung verändert uns und zeigt uns oft neue Wege auf, die wir nicht für möglich gehalten hätten.“

Synode sei „keine kirchliche ‚convention‘, keine Studientagung oder ein politischer Kongress“, gab der Papst vor, „und kein Parlament“. Sondern ein „Heilungsprozess“, eine Art Wallfahrt, bei der man offen ist „für die Überraschungen des Heiligen Geistes“ – und deswegen vor allem zuhört. „Es ist eine langsame, vielleicht mühsame Übung, zu lernen, einander zuzuhören - Bischöfe, Priester, Ordensleute und Laien, alle, alle Getauften - und dabei künstliche und oberflächliche Antworten … zu vermeiden. Der Geist fordert uns auf, die Fragen, die Ängste und die Hoffnungen jeder Kirche, jedes Volkes und jeder Nation anzuhören. Und auch, auf die Welt zu hören, auf die Herausforderungen und Veränderungen, vor die sie uns stellt.“

Seine Bilanz – und unsere

Viele der synodalen Träume des Franziskus müssen noch mit Leben gefüllt werden – das ist vielleicht das wichtigste Erbe, das der Argentinier der universalen Kirche hinterlässt. An diesem Punkt wird die Bilanz seines Pontifikats zu unserer eigenen Bilanz; ganz im Stil des Verstorbenen darf jeder sich selbstkritisch fragen, inwieweit wir (das ist ein zugegebenermaßen sehr generisches Wir) wirklich auf der Höhe des Anspruchs sind, der im Wort „Weltkirche“ steckt. Inwieweit engagieren wir uns für eine „Fratelli-tutti“-, für eine Zuhör-Kirche? Haben wir die Chancen, die in diesem Pontifikat stecken, ergriffen?

Es ist zu einfach, eine mehr oder weniger kritische Bilanz eines Pontifikats zu ziehen, als hätte das alles nichts mit uns zu tun. Wir kommen auch drin vor…

(vatican news)

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22. April 2025, 10:40